Sicherheitsglas:
die Ambivalenz des begehbaren Glasbodens
Architekten wie Helmut Jahn haben mit ihren Gebäuden aus Sicherheitsglas und Stahl eine Ära von Transparenz und Leichtigkeit im Hochbau geprägt. Doch hat dieser Baustil seine Risiken und Nebenwirkungen: die erzwungene Transparenz ist für die Menschen in den Gebäuden gleichzeitig belastend und faszinierend.
Sicherheitsglas – Helmut Jahn
Sicherheitsglas spielte in seinem Leben eine große Rolle: am 9. April 2021 verstarb der Stararchitekt Helmut Jahn bei einem Fahrradunfall und hinterließ viele Gebäude, die als Komposition aus Glas und Stahl gleichzeitig Stabilität und Transparenz ausstrahlen. Seine von ihm entworfenen Flughafengebäude, Hochhäuser und Messehallen scheinen zu schweben und den Unterschied zwischen Innen und Außen aufzuheben. Tatsächlich wird durch das verwendete Sicherheitsglas das Leben in den Gebäuden zu einem öffentlichkeitswirksamen Dauer-Event. In Deutschland kennt die breitere Öffentlichkeit Helmut Jahn vor allem durch das Sony Center in Berlin. Es wurde 2000 eröffnet und prägt seither den Potsdamer Platz. Allein für das Dach des international bekannten Gebäudes wurden auf einer Gesamtfläche von 3.500 m2 mehr als 105 Tonnen Sicherheitsglas verbaut.
Sicherheitsglas Geschützt und schutzlos zugleich
Wer sich im Innern der von Helmut Jahn entworfenen Gebäude befindet, fühlt sich geschützt und schutzlos zugleich. Geschützt, weil die Glasfronten eben bei aller Transparenz doch eine gefühlte Barriere ergeben. Und schutzlos zugleich, weil die Intimität einer klassischen Mauer entfällt, man sich öffentlich und beobachtet fühlt. Das Private und Persönliche wird zum Öffentlichen.
Am Schreibtisch sitzen, telefonieren, sich unterhalten: alles wird zum öffentlichen Event und zwingt die Beteiligten dazu, in jeder Sekunde eines Arbeitstages ein gutes Bild abzugeben. Wie weit davon entfernt die Zeiten, in denen Beschäftigte ihre Bürotür hinter sich schlossen und erst mal ihre Büropflanzen gossen, bevor es an die eigentliche Arbeit ging.
Quält Glas die Menschen also? Setzt Glas die Menschen durch die ständige Öffentlichkeit unter Dauerstress? Helmut Jahn hätte vehement widersprochen. Er wollte mit seinen Gebäuden den Menschen Räume zu geben, in denen sie sich treffen können und diese Treffen durch ihre gläserne Sichtbarkeit gleichzeitig eine Aufforderung an die Menschen zum sozialen Miteinander werden.
Sicherheitsglas ermöglicht ambivalente Effekte
Ein weiterer von Helmut Jahn und vielen anderen Stararchitekten, die ihm nacheiferten, ungewollter Sicherheitsglas-Effekt ist ein psychologischer: die Ambivalenz einer geschützten Unsicherheit. Jeder, der einmal in einem Aufzug mit Glasboden und Glaswänden lange Sekunden verbringen musste oder durfte, wird diese Ambivalenz kennen.
Einerseits vermitteln die Füße dem Gehirn das Signal „Ich stehe auf sicherem Boden“, während die Augen den freien Fall melden und „Alarm“ rufen. Hinzu kommt in diesen Glasaufzügen das Gefühl der Enge, das auch Menschen, die nicht ausgeprägt an Klaustrophobie leiden, den Schweiß auf die Stirn treibt. Warum entwerfen Architekten so etwas?
Im Fokus stehen die Betrachter, nicht die Nutzer
Man kann davon ausgehen, dass sie bei der Entwicklung ihrer Entwürfe weniger die Gefühle der Nutzer im Auge hatten als jene der Betrachter: diese sehen Menschen scheinbar nach oben schweben, eine Leichtigkeit, die fasziniert. Und manchmal läuft einem bei der Betrachtung ein Schauer über den Rücken, denn man ahnt schon beim Betrachten des fahrenden Aufzugs die Angst jener, die gerade nach oben oder unten schweben, und ist froh, nicht drin zu sein; und fühlt doch gleichzeitig die Sehnsucht, ebenfalls zu schweben. Gefahr und Glück aus zweiter Hand, oder eben: Ambivalenz, die in diesem Zusammenhang nur das Sicherheitsglas bieten kann, jedenfalls dann, wenn man nicht Kopf und Kragen riskieren will.
Das mit dem Sicherheitsglas wird schon seine Richtigkeit haben
Doch was ist mit den Passagieren dieser gläsernen Aufzüge? Sind sie allesamt gleichgültig ob der gefühlten Gefahr? Keineswegs. Sie steigen mit einer gewissen Nervosität in einen solchen Aufzug, doch sie tun es. Warum? Das Geheimnis liegt im Kontext: die Passagiere sehen ein Gebäude, das grundsätzlich sicher erscheint. Warum sollte es also beim Aufzug anders sein? Und andere Personen scheinen sich dem gläsernen Aufzug auch anzuvertrauen – der Herdentrieb lässt grüßen. Last but not least ist auch die Neigung vieler Menschen, Verantwortung für die eigene Sicherheit abzugeben, sehr ausgeprägt. Es werde schon, so die halbbewusste Überlegung, ein Fachmann für Sicherheitsglas alles geprüft haben. Und so ist es bei Glastreppen, Glasböden und Glasmöbeln auch: das wird schon seine Richtigkeit haben, und das Sicherheitsglas wird schon das sein, was der Name verspricht: sicher.